Als ich meinen Opa kennenlernte, war ich noch sehr jung und er, aus meiner Sicht, sehr alt, Ende 50. Es gab dann noch einige Jahrzehnte, in denen wir uns mehr oder weniger häufig begegneten.
Obwohl ich schon bald körperlich auf ihn herabblicken konnte, blieb er für mich zeitlebens eine Respektsperson. Nicht, weil die Konvention es verlangte, sondern, weil er eine war. Bis zur
Vertreibung im Krieg hatte er in Memel, Ostpreußen, eine Bauklempnerei, während meine Oma das zugehörige Porzellangeschäft führte. Eine schwere Erkrankung in seinen Vierzigern hatte dazu geführt,
dass der einst stattliche Unternehmer zu dem hageren, wegen seines Viertelmagens ewig hungrigen Mann wurde, als den ich ihn kannte. Nach dem Krieg hatten sich meine Großeltern in einem östlichen
Vorort Berlins niedergelassen, wo mein Opa sich wieder als Klempner selbständig machte. Sein Sohn war bei Stalingrad gefallen, die jüngere Tochter hatte es nach Berlin verschlagen und die andere,
meine Mutter, nach Lübeck. Ein Schicksal, das meine Familie mit vielen anderen teilte. Die Segnungen des Sozialismus führten dann zu einer weiteren Enteignung. So wurde aus dem selbständigen
Klempnermeister ein angestellter technischer Inspektor für Fernheizungen in den riesigen Wohnkomplexen in Ostberlin. Bis zu seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr. Nun, als Rentner, war er für das
Arbeiterparadies nicht mehr wertvoll und meine Großeltern durften in den Westen umsiedeln, wo sie eine kleine Wohnung, wenige Gehminuten von der Wohnung meiner Eltern bezogen. Als einige Jahre
später meine Oma starb, kam er regelmäßig zum Mittagessen zu meinen Eltern. „Essen auf Sohlen“, die Vorgängerversion vom Essen auf Rädern. Wenn ich mir heute sein Bild vor Augen rufe, dann sehe
ich einen kleinen Mann mit Anzug und Krawatte vor mir. Ruhig, freundlich, aber respekteinflößend. Das Bild zeigt ihn an seinem neunzigsten Geburtstag. Nie hat er die Wohnung in Freizeitkleidung
verlassen oder Besuch empfangen, ohne sich ordentlich zu kleiden. Zu seinem neunzigsten Geburtstag erschien eine Würdigung im „Memeler Dampfboot“, einer Heimatzeitung der Vertriebenen aus Memel.
Darauf meldete sich ein früherer Lehrling und Geselle bei ihm und hatte eine dringende Bitte: Er benötigte für seinen Rentenantrag einen Nachweis für die Zeit, die er im Geschäft meines
Großvaters gearbeitet hatte. Also setzte sich mein Opa hin und schrieb eine Bestätigung, dass Herr Sowieso an dem Datum als Lehrling in seinen Betrieb eingetreten sei und an dem Datum durch
Einberufung zur Wehrmacht als Geselle ausgeschieden sei. Handschriftlich mit korrekten Zahlen und Daten. Er freute sich damals sehr, von dem Mann zu hören, und ihm in einer so wichtigen
Angelegenheit behilflich sein zu können. Natürlich war er immer noch ein attraktiver Mann und hatte sich mit einer Nachbarin etwas angefreundet. Man besuchte sich zum Kaffee und brachte sich
kleine Aufmerksamkeiten. Eines Tages, er war inzwischen 92, klingelte es an seiner Tür. Er eilte, in freudiger Erwartung, durch den Flur, um zu öffnen, stolperte über den Teppich und war dann
einige Monate bettlägerig als Pflegefall bis er starb.
Warum schreibe ich darüber? Es geht um Respekt. Ich habe durch diese und viele weitere Erfahrungen und Begegnungen in meinem Leben gelernt, Menschen zu respektieren. Unabhängig vom Alter und
unabhängig von der Fähigkeit, sich Respekt selbst zu verschaffen. Einen alten Menschen wie ein Kleinkind zu behandeln, nur weil er sich nicht ohne Hilfe bewegen, versorgen, oder artikulieren
kann, ist respektlos! Solche Leute kann ich meinerseits nicht respektieren. Mancher sogenannte Helfer entwürdigt sich selbst durch das eigene, bewußte Verhalten. In Solvida haben wir Respekt vor
den Wünschen und der Selbstbestimmung der Menschen. Auch, wenn wir wissen, dass die Person, deren Wohnung wir betreten wollen, das Bett nicht verlassen kann, melden wir uns vom Eingang aus an und
treten nicht einfach ein. Vielleicht wird man dem Bewohner dann die Windeln wechseln und damit tief in die Intimsphäre eindringen. Dies kann man aber durchaus mit Respekt tun und dem Menschen die
Würde lassen.
Immer wieder und immer gern begegne ich in Solvida einer alten Dame. Sie ist jetzt 92 und dement. Allein findet sie nicht zum Essen oder zurück in ihre Wohnung. Sie erkennt Menschen nicht, weiß
nicht, wo sie ist und was in der Welt geschieht. Beim Essen muss sie gefüttert werden. Immer ist sie adrett in Kostüm oder Kleid gekleidet. Immer ist die Damenhandtasche dabei. Regelmäßig wird
sie zum Friseur begleitet. Wenn sie mit einem leichten Blauschimmer in der gepflegten Frisur zurückkommt und man macht ihr ein Kompliment, dann strahlt sie. Das ist einfach schön. Natürlich sieze
ich sie. Sie ist eine Dame und hat mir nicht das „Du“ angeboten.
Kürzlich mussten wir uns von einem Herrn verabschieden, der nach einer schweren Krebsoperation die letzten vier Jahre in Solvida verbracht hatte. Es war ihm damals sehr schwer gefallen, sein
geliebtes Häuschen zu verkaufen, und nach Solvida umzuziehen. Hier blühte er sichtlich auf, kaufte selbst ein, kochte selbst und versorgte Blumen und Katzen im Garten. Auch sein künstlicher
Darmausgang, der ihn zuerst hatte verzweifeln lassen, behinderte ihn, gut versorgt, kaum noch. Dann kam der Rückfall mit der schlimmen Prognose, er habe nur noch wenige Wochen Zeit. Angesichts
des nahen Endes machte er uns eines der schönsten Komplimente: Er habe in Solvida eine gute Zeit gehabt und eine Heimat gefunden und wolle deshalb in Beniarbeig, nahe Solvida, bestattet
werden.
Ich hoffe, dieser kleine Beitrag wirkt nicht zu schmalzig. Er ist keineswegs so gemeint. Vielleicht versteht man so etwas besser, dass Respekt und Würde bei uns in Solvida keine
Lippenbekenntnisse sind, sondern gelebte und immer wieder erneuerte Realität.