Wenn Hilfe zu Zwang wird

In den letzten Monaten kamen mehrfach Themen rund um Selbständigkeit und Eigenverantwortung im Alter auf den Tisch. Vielfach wird Hilfsbedürftigkeit mit Unmündigkeit gleichgesetzt und körperliche Schwächen werden ausgenutzt, um alte Menschen zu bevormunden. Sehr schön wird diese Situation in einem kleinen Sketch persifliert: „Herr Holm“, Polizist mit klarem Weltbild „hilft“ einer alten Dame:


https://www.youtube.com/watch?v=ZVlu3m31OSc


2007 stellte Peter Paul Gantzer in seinem Buch „Alt ist was?“ das Rollenbild alter Menschen in Frage. Er wehrte sich darin unter anderem gegen die Bevormundung alter Menschen und dagegen, dass alt oft mit nutz- und hilflos gleichgesetzt wird. In diesem Monat vollendet er sein achtzigstes Lebensjahr und zieht sich aus der aktiven Politik zurück. Viele Jahre war er Notar in München gewesen, Landtagsabgeordneter, Vizepräsident des Bayerischen Landtags, Präsident der Deutsch-Spanischen Juristenvereinigung, Rekord-Fallschirmspringer .… Nun will er sich mehr seinem Hobby, dem Fallschirmspringen, widmen und nur noch gelegentlich als Notar aushelfen. Auf seiner Fallschirmspringerweste steht ein für ihn typischer Satz: „Bitte helfen Sie mir ins Flugzeug – raus fallen kann ich alleine.“ Das wäre doch eine schöne Aufgabe für Herrn Holm.

Solange man sich wehren kann, mag man die Problematik belächeln. Ernst wird es dann, wenn man fremdem Willen ausgesetzt ist, vielleicht aufgrund körperlicher Einschränkungen, oder weil man seinen eigenen Willen nicht mehr für jedermann verständlich artikulieren kann. Hier kommt es nicht zuletzt auf die Einstellung und die Absichten der Helfer an. Hier gibt es eben auch die fundamentalen Unterschiede nicht nur im deutschen und spanischen Betreuungsrecht, sondern auch im gesamten Umgang mit alten Menschen. Dabei geht es nicht um gute oder böse Absichten, sondern darum, dass  die Fürsorge hier in Spanien generell noch sehr besitzergreifend verstanden wird. In den deutschsprachigen Ländern steht möglichst lange Selbständigkeit im Mittelpunkt des Interesses, während man in Spanien eher die „technisch“ gute Versorgung anstrebt. „Satt und sauber“ ist ja auch im deutschsprachigen Bereich nicht unbekannt.

Hintergrund ist in Spanien sicher auch die traditionelle Überzeugung, dass die Familie nur das beste für die Eltern oder Großeltern anstrebt. Man darf aber auch nicht vergessen, dass hier die Mittel für Unterstützung aus Sozialkassen noch beschränkter sind und deshalb die Wünsche einzelner Betroffener in den Hintergrund treten müssen. Das erklärt auch die immer wieder auftretenden Missverständnisse um das „Betreute Wohnen“. Während darunter in den deutschsprachigen Ländern die gewollte Verlängerung der Selbstbestimmung alter Menschen verstanden wird, sind „Viviendas Tuteladas“ aus spanischer Sicht eher Nothilfe für Menschen, die nicht mehr selbständig leben können. Betreutes Wohnen in dem Sinne, wie es in den deutschsprachigen Ländern verstanden wird, entwickelt sich in Spanien erst langsam. Obwohl es schon seit 2012 eine europäische Norm CEN/TS 16118 (Sheltered Housing) zu den Anforderungen an Betreutes Wohnen gibt, ist uns über die praktische Umsetzung in Spanien trotz intensiver Recherche bisher nichts bekannt. Vorbild für die europäische Norm war die deutsche DIN 77800 gewesen, in der im Jahr 2006 erstmals allgemein gültige Vorgaben für Betreutes Wohnen definiert wurden. In Österreich wurde die Norm als OE-Norm übernommen und in der Schweiz zitiert man in einschlägigen Diskussionen das deutsche Vorbild.

Solvida steht, quasi als Vorreiter der neuen Denkweise, regelmäßig mit der zuständigen spanischen Aufsichtsbehörde (Conselleria De Igualdad y Políticas Inclusivas) in Valencia in Kontakt und befolgt deren Auflagen minutiös. Außerdem ist Solvida als einziges Betreutes Wohnen in Spanien nach der DIN 77800 - Qualitätsanforderungen für Betreiber der Wohnform „Betreutes Wohnen für ältere Menschen“ zertifiziert. Beiden Regelwerken gemeinsam ist die Anforderung, dass die Menschen, die in Solvida eine Wohnung nach spanischem Mietrecht bewohnen, frei in ihren Entscheidungen bleiben und bei Bedarf ihre Betreuer und den Umfang der Betreuung selbst wählen können. Das genau ist der Hauptunterschied zu einer Residenz und genau das verursacht bei manchen Menschen Verständnisprobleme. In erster Linie geht es dabei nicht einmal um lautere oder unlautere Motive, sondern um die Achtung vor dem freien Willen der Menschen, in deren Interesse man zu agieren vorgibt.

Die Achtung vor dem freien Willen der Menschen ist im deutschen Grundgesetz ganz vorne im Artikel 2 festgeschrieben. Dieses fundamentale Menschenrecht war auch der Grund für die umfassende Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts, die in Deutschland bereits Anfang der neunziger Jahre umgesetzt wurde. In Spanien steht eine solche Reform noch aus. Manchmal leider zum Nachteil der Betroffenen.